»ein strumpf wächst durch den tisch«
Ulf Stolterfoht, Iris Drögekamp, Thomas Weber
LP, October 2019, Karlrecords
Text Ulf Stolterfoht Musik Thomas Weber Regie Iris Drögekamp & Thomas Weber Sound & Fury Kammerflimmer Kollektief: Heike Aumüller (Harmonium), Christopher ’Giga’ Brunner (Schlagzeug) & Johannes Frisch (Kontrabass) & Thomas Weber (Elektrische Gitarre) Stimmen Kathrin Wehlisch & Markus Meyer Tonmischung Andreas Völzing Tonschnitt John Krol Produktion SWR 2019 Dramaturgie Frank Halbig Titelbild Heike Aumüller Zeichnung Ulf Stolterfoht
Auf Grundlage der Kassiber, mit denen sich die isolierten RAF-Gefangenen während der Hungerstreiks in Stammheim verständigten, versucht das Stück, etwas über die Macht von Namen und Benennungen herauszubekommen, und darüber, wie sich Hierarchien sprachlich abbilden und verfestigen.
Als Überraschungsgäste treten auf: Ludwig Wittgenstein, Herman Melville, Frank Witzel und höchstwahrscheinlich auch das Rumpelstilzchen. So weit das reichlich willkürliche Setting. Querverbindungen und Vorwegnahmen zuhauf.
„Auf Anraten Freges tauchte Wittgenstein am 18. Oktober 1911 in der Sprechstunde Russells auf. Vom nächsten Tag an dominierte er die Diskussionen in seiner Vorlesung über mathematische Logik.“
„Am Morgen des 18. Oktober 1977 wurden in ihren Zellen tot aufgefunden: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Irmgard Möller überlebte mit Stichverletzungen im Brustbereich.“
„sone art strumpf, den die gefangenen von prozeß zu prozeß stricken, an ihrem lernprozeß, ihrer connection, bis, naja, er durch den tisch gewachsen ist: die revolution“, schreibt Andreas Baader den Stammheimer Mitgefangenen in einem Kassiber vom 22. April 1976. Und während in den Zellen weitergestrickt wird am revolutionären Strumpf, sitzt in einem anderen Kämmerchen die verzweifelte Müllerstochter und weiß sich um ihr Leben keinen Rat, wie denn das Stroh zu Gold zu spinnen wäre. „Heißest du etwa Wittgenstein?“, will sie vom Männlein wissen. „Heißest du Starbuck, Schnürbein, Ahab, Quiqueg, Hammelwade? Heißest Du etwa Lazarus?“ „Nein, nein, so heiß ich nicht!“ Etwas Lebendes ist ihm nämlich viel lieber als alle Schätze der Welt. Und wie, wenn jeder etwas Lebendes in einer Schachtel hätte, einen Käfer zum Beispiel, und wüßte nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß jeder etwas anderes in seiner Schachtel hätte. Und durch den Namen wäre zu kürzen. „Das hat dir der Ludwig gesagt, das hat dir der Ludwig gesagt“, schrie da das Männchen und riß sich selbst mitten entzwei.“ (…)
An engaging and intriguing radio drama by the German poet Ulf Stolterfoht (directed by Iris Drögekamp and Thomas Weber) with music by the Kammerflimmer Kollektief. Based on secret messages exchanged by imprisoned Red Army Faction (RAF) members like Andreas Baader, Gudrun Ensslin and the rest of the gang, through this radio drama by Ulf Stolterfoht (winner of several literary prizes), the authors explore the power of names and denominations. Guests making surprise appearances are among others, Ludwig Wittgenstein, Herman Melville, and maybe even Rumpelstiltskin. The play unfolds in a highly unusual setting, weaving a tapestry of references. The music for this radio play was created by Kammerflimmer Kollektief, in their unique and uncategorizable blend of sound drawing inspiration from jazz, folk and electronics.
»Der Lyriker Ulf Stolterfoht wurde für seine plunderphonische ‚Art Brut‘, seine „mit Reimleim verklebten Textmixe“ (nachzulesen bei Urs Engeler, Peter Engstler oder Kook- books), schon mal als „Zitatrowdy“ gelobt. „Fachsprachen“ sind sein Spezialgebiet, Nas- sauerei sein Lebenswerk, die beste droge ist ein weißes blatt könnte sein Motto sein. Hier liefert er den Text zu Ein Strumpf wächst durch den Tisch (KR074, LP), ein Hörspiel in Regie von Thomas Weber und Iris Drögekamp und mit Musik vom Kammerflimmer Kollektief. (…) die Stimmen sind die der Krimi-erfahrenen Schauspielerin Kathrin Wehlisch und des auch aus John von Düffels RadioTatort-Serie bekannten Burgtheater-Mimen Markus Meyer. Hier sind die Schurken ein als Rumpelstilzchen bekannter Kidnapper und Erpresser. Und der Rotarmist Andreas Baader, der aus Stammheim ausbrach, um mit Starbuck, Quiqueg, Lazarus und dem tollen Wittgenstein auf einem Walfänger anzuheuern. Andererseits behauptet Gudrun Ensslin in Kassiber-O-Ton, mit Wittgenstein Stroh gedroschen und Schweine zum Teufel gejagt zu haben. Unter der Maske Geld, das Schwein. Aber ist das eine gesicherte Aussage oder nur ein Rhinozeros, das nicht im Zimmer ist? Schwer zu be- / zu widerlegen ist auch die private Empfindung, dass das Kollektief rockt wie Sau. Psychedelisch, erzwinglich, Bilder schürend von Dampf im Topf, Stroh im Kopf, Gold im Mund, Hals im Band. Oh Gott, welcher Mund kann das aus- sagen? Die Rote Armee Fraktion auf Schweinswalfang, fallweise als Harpuniere, lallende Besenstiele, zwangsernährte Märtyrer. Stolterfoht drischt Widerstandslatein, Befreiungsstroh, stammheimlich, schnurrig, schweinchenschlau. Die Lage ist der Fall. Der Revolutionsbart wächst barbarossig durch den Tisch, erstarrt zu Stein. Erstarrt zu Schmerz, nicht auf der Schreibmaschine zu lösen, nicht auf ’nem Plattenteller. Die Suppe ist auf dem Tische, Punkt 13 Uhr. Philosophie der Praxis, Gefängnishefte, Wortsuppe, Wittgen- stein als Blendgranate im Radical-chic-Remix. Dazu jan-carl-raspe-lt der Bass, guudruunt das Harmonium, rumpeln die Drums. Götzenhammer, Fotzenpanik, Nierenkiste, Katzenjammer, Froschperspektive, Lebensweisen – mit dem Kampf nicht zu vereinbaren. Die SPD als Vollstreckerin der NSDAP, nichts sonst. Wahr oder falsch? Usw. Die Macht von Namen und Benennungen? Schwein als System. Ratte im Labyrinth. So heiß ich nicht, nein, diese Suppe ess ich nicht. Kategorischer Wider-Geist. Dann packte es den linken Fuß mit beiden Händen… .« ~ Rigobert Dittmann, Bad Alchemy 105